Übersicht den älteren Zitaten des Monats
Rekapitulation von älteren Zitaten des Monats auf der Hauptseite. Bezeichnung Zitat des Monats trifft nicht ganz zu, weil es sich um die Auszüge aus den Werken von Anne Golon handelt, die in geeigneter Weise die Atmosphäre der Zeit zum Ausdruck bringen. In der Regel entsprechen die Zitate dem momentanen Jahreszyklus und dem Wetter. Und natürlich auch den kulturellen Traditionen (Bräuchen) passend zu der aktuellen Jahreszeit.
November 2022
Ein Ofen verbreitete angenehme Wärme im Salon. Ganz hinten enthüllte ein Alkoven, dessen Brokatvorhänge hochgezogen waren, ein großes, bequemes Bett. Eine kostbare Spitzendecke war darübergebreitet. Der Raum war komfortabel eingerichtet. Eine Vielzahl wertvoller Gegenstände schmückte ihn. Durch die großen Fenster des Achterdecks fiel mattes Licht, das die Bronze- und Goldbeschläge der Möbel und die kostbaren Einbände der in einem Palisanderschrank aufgereihten Bücher leuchten ließ. Jedesmal empfand Angélique hier Wohlbehagen und Sicherheit. Sie warf ihren Mantel über einen Sessel und begann sich zu entkleiden.
(Golon, Anne. Angélique und die Verschwörung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1979, Seite 69)
Oktober 2022
Kurz nachdem die Zwillinge ein Jahr alt geworden waren, hatten sie unter dem Jubelgeschrei und Gelächter aller Bewohner des Forts ihre ersten Gehversuche unternommen. Doch das Lachen verging, als sie kurze Zeit später unermüdlich durchs Haus watschelten, die Treppen hinunterkrochen, sich aus dem Staub machten, auf die Schemel kletterten und die Türen aufrissen und den ganzen Hausstand in helle Aufregung versetzten. Wiegefrauen, Stickerinnen und Ammen mußten die Wachen um Hilfe bitten. Die verschiedensten Ziehschwestern und -brüder hatten sich nämlich gleichzeitig verflüchtigt, und diesen ganzen Schwarm galt es einzufangen.
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1987, Seite 135)
September 2022
Der Wald schien wie gelackt und leuchtete selbst in weiterer Entfernung in lebhaften, ungewöhnlichen Farben, getupft vom Schwarz der Fichten, vom Türkisblau mächtig ihre Schirmkronen reckender Kiefern, vom goldenen Rot einzelner Sträucher, das den Herbst verkündete. Schon! Sie hatten kein Anzeichen des Sommers gesehen. Überall ringsum, in der Bucht und weiter draußen auf dem in intensivem Lavendelblau funkelnden Meer, erhoben rosig umrandete Inseln ihre belaubten Dome. Sie wirkten wie eine Schar von Haien, die die herrliche Küste mit der Drohung ihrer starrenden Klippen gegen die Begehrlichkeit der Menschen verteidigten. Sich zwischen ihnen hindurchzuschlängeln, um das Refugium zu erreichen, in dem das Schiff leise schaukelte, schien fast aussichtslos.
(Golon, Anne. Angélique und ihre Liebe. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1970, Seite 390)
August 2022
Die Kurtisanen rings um sie her flüsterten, träumten, intrigierten. All diese Frauen, die sich in der schwülen Atmosphäre des Harems behaglich fühlten, überließen sich der Sinnlichkeit ihrer schönen, der Liebe geweihten Körper. Glatt und anschmiegsam, parfümiert, herausgeputzt, waren sie mit ihren schwellenden Rundungen wie geschaffen für die Umarmung eines gebieterischen Herrn. Sie hatten keinen andern Lebenszweck und harrten, zornig über ihren Müßiggang und ihre unfreiwillige Enthaltsamkeit, der Lust, die er ihnen schenken würde. Denn nur allzu wenigen unter diesen Hunderten von Frauen ward die fürstliche Huldigung zuteil.
(Golon, Anne. Unbezähmbare Angélique. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1968, Seite 391-392)
Juli 2022
Als sie sich Cantors Unterkunft näherte, sah sie die Lampe hinter der halbgeöffneten Luke brennen und blieb stehen. War er allein? Bei diesen jungen Leuten konnte man nie wissen... Doch nach einem vorsichtigen Blick ins Innere lächelte sie. Er war auf seiner Bettstatt eingeschlafen, die Hand noch ausgestreckt nach einem großen Korb mit Kirschen, den er auf einen Schemel neben seinem Lager gestellt hatte. (...) Sie betrat leise den Verschlag und setzte sich an sein Lager. »Cantor!« Er öffnete die Augen und fuhr auf. »Hab' keine Angst. Ich möchte nur deine Ansicht hören. Was denkst du von her Herzogin von Maudribourg?« Sie fiel mit der Tür ins Haus, um ihm erst gar nicht Zeit zu lassen, mißtrauisch zu werden und sich nach seiner Gewohnheit vor ihr abzukapseln. Er richtete sich, halb auf einen Ellbogen gestützt, auf und betrachtete sie mit argwöhnischer Miene. Angélique griff nach dem Kirschnekorb und stellte ihn zwischen sich und ihn. Die Früchte waren riesig und glänzten wahrhaft kirschrot.
(Golon, Anne. Angélique und die Dämonin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 199-200)
Juni 2022
Gefiltert durch die reiche Fülle des Laubwerks der über ihnen aufragenden riesigen Eichen, erhielt das Abendlicht einen grünen Schein, der die Gesichter bleichte und die Schatten vertiefte. Der Fluß drüben glühte in goldenem Glanz, während die Bucht die stumpfe Tönung des Zinns annahm. Durch das Spiel der Spiegelungen von Wasser und Himmel war es heller geworden als noch vor kunzem. Die Juniabende waren nahe, die der Nacht ihr Reich streitig machen. Man hatte große schwarze Champignons in die Feuer geworfen, vertrocknet und rund wie Kugeln. Verglühend verströmten sie einen scharfen Geruch nach Wald, der die erfreuliche Eigenschaft hatte, die Stechmücken zu vertreiben. Der Duft des Tabaks aus vielen Pfeifen vermischte sich mit ihm. Ein feiner Dunst lag über der Bucht: eine verborgene Zuflucht am Ufer des Kennebec.
(Golon, Anne. Angélique und die Versuchung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 15)
Mai 2022
Was sie in Mélusines Höhle im Flüsterton erfahren hatte, war das Geheimnis, das die Frauen unter sich bewahrten und immer bewahren würden: Wie man verhinderte, dass unerwünschte Kinder zur Welt kamen... Ein geheimes, ausgefeiltes Ritual, eine untergründige, geniale und wirkungsvolle Methode, zusammengetragen aus tausend Quellen; niemals laut benannt, nur angedeutet und im Verborgenen übermittelt, um »das Unglück zu verhüten«. Kostbares Wissen und ein Schutz der Frau vor dem Mann und den Gefahren, denen er sie aussetzte. Warum war es nötig, dass man sich dieses Geheimnis nur in der Höhle der Hexen zuflüsterte?, fragte sich Angélique, wenn sie auf einem ihrer Ausflüge in sonnenbeschienene Landschaften aus ihren Erinnerungen zurückkehrte. Um sich vor dem Teufel zu schützen? Oder vor dem Großinquisitor, dem Hüter der Kirche und ihrer Moral?
(Golon, Anne. Angélique. Hochzeit wider Willen. Augsburg: Weltbild, 2012, Seite 305)
April 2022
»Aber woher kommt Ihr? Ihr seid wie verwandelt.« »Ich?« Angéliques Blick fiel in den an der Wand angebrachten hohen Spiegel aus poliertem Stahl, vor dem sie zuweilen zerstreut und eilig ihr Haar geordnet und den Sitz ihrer Haube geprüft hatte, und sie sah sich nackt. Wie im Aufleuchten eines Blitzes erkannte sie ihre weiße Gestalt, das Bild einer kraftvollen, gutgewachsenen Frau mit straffen, hoch angesetzten Brüsten, langem Rücken, wohlgeformten Beinen, »den schönsten Beinen von Versailles«, gezeichnet von dem roten Mal jener Narbe, die ihr Colin Paturel beigebracht hatte, um sie vor dem Schlangenbiß zu retten, damals im Rif. Ein vergessener Körper! Die verletzende Stimme klang ihr wieder in den Ohren. »Eine Frau, für die hundert Piaster noch zuviel wären.« Sie zuckte spöttisch mit den Schultern: »Was will er noch? Um so schlimmer für ihn.«
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1969, Seite 531)
März 2022
Angélique richtete sich entschlossen auf. »Ninon, hört auf, ich bitte Euch. Ich will Philippe heiraten. Ich muß Philippe heiraten. Ihr könnt nicht verstehen, warum. (...) Sagt nichts mehr …« Die spärlichen, gefühlsbetonten Auskünfte, die Angélique bekommen hatte, änderten nichts an der Situation. Immer wieder stand sie in ihren Zimmern dem gleichen rätselhaften Philippe gegenüber, und ihre Beziehungen entwickelten sich nicht weiter. Schließlich fragte sie sich, ob er nur Marie-Agnès’ wegen käme; doch auch nachdem ihre Schwester sie verlassen hatte, stellte er sich häufig ein. (...) Als die ersten Frühlingstage kamen, fühlte sie sich verzweifelt. Sie hatte sich insgeheim zu sehr an dem Gedanken berauscht, Philippe zu heiraten, um nun den Mut aufbringen zu können, darauf zu verzichten. Denn als Marquise du Plessis würde sie bei Hof vorgestellt werden, in ihre Heimat, zu ihrer Familie zurückkehren können und über das schöne, weiße Schloß regieren, das sie in ihrer Kindheit entzückt hatte.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 742)
Februar 2022
Die Luft in den Straßen von Paris, deren Geruch sie einst als so unangenehm empfunden hatte, erschien ihr mit einem Mal sauber und köstlich, als sie sich endlich frei, lebendig und in sauberen Kleidern vor den Toren der abscheulichen Einrichtung wiederfand. Mit ihrem Kind auf dem Arm schritt sie beinahe fröhlich aus. (...) Die Leute, die an ihr vorbeigingen, hielten Wachskerzen in der Hand. Der Geruch von warmen Pfannkuchen drang aus den Häusern. Sie schloss daraus, dass es der zweite Februar sein musste. Die Leute feierten die Darstellung Jesu im Tempel und Mariä Reinigung, indem sie einander Kerzen schenkten, ein Brauch, der dazu geführt hatte, dass dieser Tag auch als Lichtmess bezeichnet wurde. Du armes kleines Jesuskind, dachte Angélique und küsste Cantor auf die Stirn, als sie das Tor des Temple durchschritt.
(Golon, Anne. Angélique. Der Gefangene von Notre-Dame. Berlin: Blanvalet, 2009, Seite 174 pdf)
Januar 2022
Das Licht der Laterne war überflüssig. Sobald sie den schmalen Durchlaß zwischen Schneemauern hinter sich hatten, der von der Schwelle zum Hof hinaufführte, tauchten sie in die silbrige Helligkeit des Mondlichts. (...) Man sah ziemlich weit, bis zum anderen Ende des ersten Sees. Der vom Wind immer wieder aufgewehte schneeige Staub schien die Landschaft wie in glitzernden Dunst zu hüllen, der ihre Konturen verwischte. Unter die-sem wirbelnden Diamantstaub verdiente der See, auf dessen glatter, vereister Fläche das Mondlicht sanft reflektierte, mehr denn je den Namen Silbersee.
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 427)
Dezember 2021
Das war einer der Gründe, warum Angélique den Schnee liebte. Sie liebte es, frühmorgens in einem wohlgeheizten Haus aufzustehen und ans Fenster zu treten, hinter dessen beschlagenen Scheiben sich die verschneite Landschaft abzeichnete. (...) Sobald Schnee gefallen war, wurden ein oder zwei Schweine geschlachtet. Die Zeremonie des Schlachtens markierte den ersten Höhepunkt in einer ganzen Reihe von festlichen Anlässen. So wurde Advent gefeiert, und man beachtete die Sitten und Gebräuche, die sich in der Heimat mit diesem Fest verbanden. Die Weihnachtsfeier in Wapassou war von inniger Frömmigkeit geprägt. Geschenke gab es erst zu Epiphanias, da es ja die Heiligen Drei Könige gewesen waren, die dem Jesuskind Gaben gabracht hatten. Das Leben spielte sich in der kalten Jahreszeit im Inneren der Häuser ab.
(Golon, Anne. Angélique und die Hoffnung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1985, Seite 378, 381)
November 2021
Die Gesellschaft schickte sich an, Platz zu nehmen. Das Essen fand nur im kleinsten Kreise statt. Die Gruppe hatte sich im Verlauf der Reise herauskristallisiert. Sie war aus den verschiedensten Charakteren zusammengewürfelt, aber die Tatsache, daß sie in relativ kurzer Zeit viele Abenteuer gemeinsam erlebt hatten und gezwungen waren, Sorgen und Vergnügen miteinander zu teilen, hatte wesentlich dazu beigetragen, sich näherzukommen. Bacchus zur Ehre hatte man ein besonders kostbares Geschirr gedeckt, und vor jedem Gast standen Gläser aus feinstem französischen Kristall.
(Golon, Anne. Angélique und die Verschwörung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1979, Seite 253)
Oktober 2021
Nachdem sie einen Augenblick hinübergesehen hatten, wandten sie sich nach links. Der Vorhang des Waldes schloß sich hinter ihnen, das Meer verschwand. Sie waren nur noch vom dicht an dicht gereihten Gefolge hundertjähriger Bäume umgeben, in deren Laub Rot, Orange und Altgold überwogen. Die blaugrüne Fläche eines Sees schimmerte zwischen den Zweigen; ein Wapitihirsch trank an seinem Ufer. Als er den Kopf zurückwarf, ähnelte sein Geweih dunklen Flügeln. Man vergaß nicht, daß hinter den zarten Stämmen der Birken, den Säulen der Eichen eine tierische Welt von äußerster Lebenskraft existierte: Wapitis, Bären, Hirsche, Rentiere, Wölfe und Kojoten, Tausende kleiner Pelztiere: Biber, Nerze, Silberfüchse, Hermeline. Vogel bevölkerten die Zweige.
(Golon, Anne. Angélique und ihre Liebe. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1970, Seite 511)
September 2021
Im Flur begegnete sie Hortense, die eine weiße Schürze um ihre magere Taille gebunden hatte. Im ganzen Haus roch es nach warmen Erdbeeren und Aprikosen. Im September kochten die guten Hausfrauen ihr Obst ein. Das war eine heikle und wichtige Aufgabe inmitten von großen roten Kupferbecken, zersto ßenen Zuckerhüten und Barbes Tränen. Drei Tage lang stand das ganze Haus Kopf. Mit einem ihrer kostbaren Zuckerhüte in der Hand stolperte Hortense über Florimond, der gerade aus der Küche kam und dabei eifrig seine silberne Rassel mit drei Glöckchen und zwei Kristallzacken schwang. Mehr brauchte sie nicht, um zu explodieren. (...) »Schrei nicht so«, entgegnete Angélique. »Glaub mir, ich helfe dir liebend gern beim Einkochen. Ich kenne ein paar sehr gute Rezepte aus dem Süden.« Mit ihrem Zuckerhut in der Hand richtete sich Hortense zu ihrer vollen Größe auf wie eine klassische Tragödin. »Niemals«, versetzte sie scharf.
(Golon, Anne. Angélique. Der Gefangene von Notre-Dame. Berlin: Blanvalet, 2009, Seite 13-14)
August 2021
Angélique und Abigaël standen inmitten des Gärtchens hinter dem Haus der Bernes zwischen Blumenbüscheln und Kräuterbeeten. (...) Die Freundschaft der beiden Frauen war jenseits aller Zwistigkeiten. Aus Instinkt isolierten sie sich, hielten sie sich aus den Streitigkeiten ihrer Männer heraus und verboten es sich, unduldsam über sie zu urteilen, um dieses notwendige Band ihrer gegenseitigen Neigung zu erhalten, diese Allianz ihrer weiblichen Empfindsamkeiten. So verschieden sie auch waren, sie brauchten diese Freundschaft. Sie war eine Zuflucht, eine Gewißheit, etwas Sanftes, Lebendiges, das selbst Trennung nicht zerstören konnte und das durch jede Prüfung, die sie durchgemacht hatten, nur noch gestärkt worden war.
(Golon, Anne. Angélique und die Dämonin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 51-52)
Juli 2021
Angélique glaubte, daß sie wach bleiben würde, aber sie mußte trotzdem in kurzen Schlaf gesunken sein, denn plötzlich wurde sie sich bewußt, daß es zu tagen begann. In der Morgendämmerung zeichnete sich eine Insel ab. Gegen das Licht gesehen, erschien sie vor dem blaßgoldenen und singrünen Himmel nur als zerklüftete, blaue Masse, die sich auf der leicht bewegten Meeresoberfläche spiegelte. (...) Der Herzog von Vivonne reichte ihr, sichtlich in bester Laune, das Perspektiv. »Seht nur, wie einladend die Insel ausschaut, Madame. Und am Fuß jener vulkanischen Felsen ist nicht die geringste Brandung zu bemerken. Das bedeutet, daß wir ohne jede Schwierigkeit anlegen können.« Angélique brauchte eine ganze Weile, um ihre Augen an das Fernrohr zu gewöhnen, dann aber wußte sie sich vor Entzücken nicht zu fassen, als sie eine blauviolette Bucht entdeckte, in der sich Möwen tummelten.
(Golon, Anne. Unbezähmbare Angélique. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1968, Seite 120-121)
Juni 2021
Dann strich sie nachdenklich über die langen kupferfarbenen Haare, als wolle sie dem Kind ihren Segen geben, und ging zu praktischen Fragen über: »Bald wird es Sommer sein, mein Kind. Du wirst unter der Hitze leiden mit deinem langen Haar. Und daß man dir Zöpfe flicht, magst du ja nicht. Soll ich es dir nicht bis zu den Schultern abschneiden, damit du dich freier fühlst?« »Meine Mutter will das nicht. Sobald es um meine Haare geht, macht sie ein schreckliches Theater.« Sie erzählte, wie sie sich schon einmal einen Irokesenkopf hatte scheren wollen und was sie dabei für einen Ärger bekommen hatte. Margueritte Bourgeoys amüsierte sich bei dieser Schilderung königlich, lachte und lachte mit einer so offenen und mädchenhaften Fröhlichkeit, daß Honorine, entzückt über ihren Erfolg, die manchmal trotz allem ein wenig zu gestrenge Oberin zum Lachen gebracht zu haben, fröhlich davonlief, um mit ihren kleinen Freundinnen im Garten Ball zu spielen.
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1987, Seite 164)
Mai 2021
Angélique legte den Arm um die Schultern ihrer kleinen Jungen und atmete beglückt die reine Luft der blühenden Fluren. Es kam ihr unbegreiflich vor, daß sie so viele Jahre in einer Stadt wie Paris hatte leben können. Sie stieß immer wieder Freudenlaute aus und nannte die Namen der Weiler, durch die sie fuhren und deren jeder ihr eine Episode aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis rief. In den letzten Tagen hatte Angélique ihren Söhnen ausführlich von Monteloup und den herrlichen Spielen erzählt, mit denen man sich dort vergnügen konnte. Florimond war fast davon überzeugt, daß man im alten Schloß ein kleines Mädchen namens Madelon und einen kleinen Jungen namens Gontran vorfinden würde. Endlich tauchte Plessis auf, weiß und verwunschen am Rande seines Teichs. Es kam Angélique, die inzwischen die prunkvollen Residenzen von Chantilly und die Pariser Paläste kennengelernt hatte, kleiner vor, als sie es in ihrer Erinnerung sah.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 774)
April 2021
»Wahrhaftig, die Narrheiten der Frauen sind mannigfaltig, aber ich muß gestehen, daß Ihr bei weitem das übliche Maß überschreitet. Rekapitulieren wir: als ich Euch das letztemal begegnete, seid Ihr mir davongelaufen, nicht ohne mir als Erinnerung meine in Flammen stehende Schebecke und fünfunddreißigtausend Piaster Schulden zurückzulassen; vier Jahre später findet Ihr es ganz natürlich, zu mir zu kommen, ohne irgendwelche Bestrafung zu fürchten, um mich zu bitten, Euch und vierzig Eurer Freunde an Bord zu nehmen und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Gebt zu, daß Eure Forderung jedes Verständnis übersteigt!« Er stieß die auf einem niedrigen Tischchen neben dem Diwan stehende Sanduhr an und drehte sie um. Dank einem schweren Bronzefuß, der es auf seinem Platz hielt, schien das Instrument durch die Bewegungen des Schiffes nicht beeinflußt zu werden. Der Sand begann zu rieseln, ein winziger, schneller Sturzbach, der Angéliques Augen in seinen Bann schlug. Die Stunden verrannen, die Nacht verstrich …
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1969, Seite 519-520)
März 2021
In der Fülle der Gaben, die aus ihr eine echte Frau gemacht hatten, erreichte sie jenes außerordentliche Alter, in dem sich für jede Frau das Dasein ohne Unterbrechung seines meteorischen Laufs erleichtert, verfeinert, sich in der Apotheose einer teuer erworbenen und darum nur um so kostbareren Freiheit der Seele und des Geistes erneuert, in der die Bürde der Irrtümer, die oftmals nur das Lehrgeld des harten Metiers des Lebens sind, ihr Gewicht verliert. Es ist gestattet, die Last des Vergangenen am Wege zurückzulassen, zu vergessen, was vergessen werden kann, sich nur des Reichtums dieses unvollkommenen und schwierigen Abenteuers zu erinnern, das sich Leben nennt.
(Golon, Anne. Angélique und die Versuchung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 374)
Januar - Februar 2021
Währenddessen schaute Angélique durch das Fenster in das nächtliche Schneetreiben hinaus. Plötzlich prallte etwas gegen die Scheiben. Sie erkannte eine große Taube, die gegen das Fenster geflogen war. Da sie auf dieser öden Erde keine andere Zuflucht gefunden hatte, hatte die Taube, gleich ihren Artgenossinnen damals auf der Arche Noah, die Nähe der Menschen gesucht. Die Stadt mit ihren tausenderlei Abfällen und Speiseresten hatte ihr das Überleben ermöglicht. Nun lag sie da, und die weißen Deckhäute ihrer Pupillen bedeckten und enthüllten abwechselnd ihre rötlichen Augen. Furchtlos starrte das Tierchen die Frau auf der anderen Seite des Fensters an, als sei sie ihr vertraut und seit langem bekannt. »Die Taube wohnt dort drüben«, sagte der Bischof. »Ich weiß, wo sie nistet. Während der schlimmsten Stürme sehe ich sie immer vor dem Fenster sitzen, aufgeplustert und zufrieden. Der kleine steinerne Fenstersims bietet ihren Füßchen kaum Platz, doch anscheinend fühlt sie sich dort in Sicherheit. Sie sieht aus, als wolle sie Gott dafür danken. Welche Lektionen sie uns Menschen erteilt, die wir so anspruchsvoll und eifersüchtig auf unser Wohl bedacht sind!«
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 543-544)
November - Dezember 2020
Eines Abends nahm Joffrey Angéliques Arm und führte sie zum Ufer des Sees. Die sinkende Sonne schüttete ihre funkelnden Rubinen gleichenden Strahlen über das ruhige Wasser, und die trockene Kälte war angenehm. »Ihr habt Sorgen, meine Schöne? Ich seh’s Euch an. Verratet mir, was Euch drückt.« Ein wenig verwirrt gestand sie ihm die Befürchtungen, die sie zuweilen bedrängten. Würden, so begann sie, das Pech, das Verhängnis nicht stärker sein als ihr Mut? (...) Er zog das kleine goldene Kreuz aus seinem Wams, das er vom Hals des toten Abenaki gerissen hatte. »Schaut Euch das an … Was seht Ihr?« »Ein Kreuz«, sagte sie. »Mir fällt auf, daß es aus Gold ist … Weil ich viele solcher kleinen Schmuckstücke bei den Eingeborenen sah, Kreuze und andere Symbole, entschloß ich mich, das Land zu erforschen. (...) Die Kreuze hatten recht. Ich habe es gefunden. Das Kreuz hat mich geführt, wie Ihr seht. Wapassou ist die reichste dieser Minen, aber ich habe weitere überall in Maine. Da ich nun weiß, daß die Regierung Kanadas ein Auge auf mich hat, muß ich mich beeilen, die Früchte meines Suchens zu ernten … Ich hätte Euch gern mit mehr Bequemlichkeit in Katarunk einquartiert, indessen haben wir durch unseren Umzug hierher Zeit gewonnen. Wir müssen nur den Winter hinter uns bringen, und das wird hart sein. Hier ist unser einziger Feind die Natur. Aber aus ihr wird mir auch Macht zuwachsen. Früher hatte ich Vermögen ohne Macht. Um das Recht zum Leben zu haben, muß ich mir sie noch erwerben. In der Neuen Welt werde ich leichter dazu kommen als in der Alten.«
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 276-277)
September - Oktober 2020
»Liebt Ihr Schmuck?« Er stellte ein eisernes Kästchen auf den Tisch, dessen schweren Deckel er zurückschlug. »Seht!« Er nahm Perlen heraus, herrliche Kleinodien von milchigem, irisierendem Glanz, an Schließen aus vergoldetem Silber befestigt. Nachdem er das Geschmeide vor ihr hatte aufleuchten lassen, legte er es auf den Tisch und nahm ein anderes, ein Halsband, dessen Perlen noch goldener schimmerten, alle von gleicher Größe, gleicher Klarheit, so viele, daß ihre Vereinigung an ein Wunder grenzte. Man hätte es sich zehnmal um den Hals legen können und noch genug für einen Strang bis zu den Knien gehabt. Angélique warf einen bestürzten Blick auf diese Wunderdinge. Ihr Vorhandensein verhöhnte ihr bescheidenes Barchentkleid, ihr über ein Hemd aus grober Leinwand geschnürtes Mieder aus schwarzem Tuch. Sie fühlte sich in ihrer gewöhnlichen Kleidung plötzlich unbehaglich. »Perlen? Ich habe ebenso schöne getragen, als ich noch am Hofe des Königs war«, ging es ihr durch den Kopf. »Nicht ganz so schöne«, widerrief sie sofort. Ihr Mißbehagen verließ sie plötzlich. »Es war eine seltene Freude, so schöne Dinge zu besitzen, aber es war auch eine schwere Last. Jetzt bin ich frei.«
(Golon, Anne. Angélique und ihre Liebe. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1970, Seite 74-75)
Juli - August 2020
Sie war um das Schloss herumgewandert und befand sich nun am Fuß jener Mauer, die sie einst so oft hinaufgeklettert war, um die Schätze in dem verwunschenen Zimmer zu betrachten. (...) Das Fenster war offen. Angélique beugte sich vor. Sie erkannte, dass der Raum zum ersten Mal bewohnt sein musste, denn im Inneren leuchtete der goldene Schein eines diskreten Öllichts, was den geheimnisvollen Anschein der herrlichen Möbel und Wandbehänge noch unterstrich. Wie Schneekristalle leuchteten die Perlmuttintarsien eines kleinen Nähschränkchens aus Ebenholz. Als Angéliques Blick auf das hohe, damastbezogene Bett fiel, hatte sie plötzlich den Eindruck, das Gemälde des Gottes und der Göttin sei zum Leben erwacht. Zwei nackte weiße Körper umfingen sich dort inmitten von durcheinandergeratenen, zurückgeworfenen Laken, deren Spitzenbesatz auf den Boden hinabhing.
(Golon, Anne. Angélique. Die junge Marquise. München: Weltbild GmbH, 2012, Seite 218-219)
Juni 2020
Auf dem schmalen Sandstreifen hatten sich Seehunde versammelt, und hier und da hoben sich einige der großen Männchen, die man die Herren der Strände nennt, aufgerichtet gleich düsteren Monolithen von der glitzernden Weite des Meeres ab, in der sie irgend etwas zu beobachten schienen, während um sie herum die kleineren, schwarzglänzenden Weibchen kauerten. (...) Ein Jahrhundert zuvor hatte ein Reisender die Robben überrascht so beschrieben: »Ihr Kopf ist wie der der Hunde gebildet, ohne Ohren, und ihr Fell ist von der Farbe der braunen Kutten bettelnder Eremiten, wie sie bei uns die Paulinermönche tragen...« Angélique hatte das gelesen, als sie noch Kind gewesen war und davon träumte, nach Amerika zu fahren... Und nun stand sie an dieser entlegenen Küste Amerikas, nicht mehr das träumerische, exaltierte Kind aus dem alten Schloß Monteloup, sondern eine Frau auf der Höhe ihres Daseins, und dennoch schien es ihr, als hätte sich wenig in ihr verändert. »Alles ist in uns gesagt vom Kindesalter an... Man ändert sich nur, wenn man sich verleugnet.«
(Golon, Anne. Angélique und die Versuchung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 246-247)
Mai 2020
Ihr Vater beobachtete sie, wie sie hüpfend und mit den Händen den Takt der Balladen und Rundtänze schlagend, die nun getanzt werden würden, zurückkam. Vielleicht war ihr zu kurzes und enges Kleid daran schuld, daß er mit einem Male gewahr wurde, wie sehr sie sich in diesen letzten Monaten entwickelt hatte. Sie, die immer recht zart gewesen war, wirkte jetzt wie eine Zwölfjährige; ihre Schultern waren breiter geworden, ihre Brust wölbte sich leicht unter dem abgenutzten Stoff ihres Kleids. Ihre frische, braungetönte Gesichtsfarbe verriet gesundes Blut, und hinter ihren halbgeöffneten, feuchten Lippen blitzten zwei Reihen makelloser kleiner Zähne. Wie die meisten Mädchen des Landes hatte sie in den Ausschnitt ihres Mieders ein Sträußchen gelber und malvenfarbiger Schlüsselblumen gesteckt.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 34)
April 2020
Hortense empfing ihre Schwester und den Advokaten mit feindseliger Miene. »Wunderbar! Wunderbar!«, schimpfte sie und tat so, als gelänge es ihr nur mit Mühe, sich zu beherrschen. »Ich sehe schon, jedes Mal, wenn du dich davonmachst, kommst du in einem noch beklagenswerteren Zustand zurück. Und natürlich immer in Begleitung.« »Hortense, das ist Maître Desgrez!« Hortense wandte dem Advokaten, den sie wegen seiner schäbigen Kleidung und seines lasterhaften Rufs nicht leiden konnte, den Rücken zu. (...) In dem Moment läutete es an der Tür, und Barbe führte Gontran herein. Bei seinem Anblick geriet Hortense vollends außer sich und brach in heftige Verwünschungen aus. »Was habe ich dem Herrn bloß getan, dass er mich mit solchen Geschwistern straft? Wer soll mir jetzt noch glauben, dass meine Familie tatsächlich von altem Adel ist? Meine Schwester kommt wie eine Lumpensammlerin gekleidet nach Hause! Und mein Bruder ist so tief gesunken, dass er mittlerweile sogar gezwungen ist, seinen Lebensunterhalt als grober Handwerker zu verdienen, den Adlige und Bürger ungestraft duzen und mit dem Rohrstock verprügeln dürfen...! Man hätte nicht nur diesen schrecklichen, verkrüppelten Hexenmeister in die Bastille sperren sollen, sondern euch beide gleich noch dazu!«
(Golon, Anne. Angélique. Der Gefangene von Notre-Dame. Berlin: Blanvalet, 2009, Seite 61)
Februar - März 2020
Eilig machte sie sich auf, um zu ihrer Tochter zurückzukehren. Regen fiel. Pfützen auf dem Weg spiegelten den weißlich-blassen Himmel. Ein Reiter überholte sie und wandte sich im Sattel halb nach ihr um. Es war Maître Gabriel. »Wollt Ihr aufsitzen, Dame Angélique?« Sie verspürte einen seltsamen Schock. Sie sah sich auf einer aufgeweichten Straße in einer ganz ähnlichen Umgebung, ein Reiter wandte sich nach ihr um, sein Lächeln glich dem Maître Gabriels. »Nein«, hörte sie sich nach einem langen Augenblick sagen. »Ich bin nur Eure Magd, Maître Gabriel. Man würde klatschen.« »Es ist wahr. Wir sind hier nicht auf der Straße nach Charenton nahe Paris.« Der Schleier zerriß. Die Polackin war an ihrer Seite. Ihre Füße waren eisig wie heute. (...) Zwölf Jahre versanken. Die beiden Szenen waren einander gleich wie Zwillinge. Derselbe Hauch von Beklemmung, von unendlicher Einsamkeit haftete ihnen an. In ihre totale Verlassenheit brachten das Gesicht eines fremden Mannes, ein mitfühlendes Lächeln flüchtigen Trost.
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1969, Seite 358)
Januar 2020
Angélique liebte diese Stunde, die Besserung zu versprechen schien. Sie verspürte keinerlei Angst, wenn sie allein da oben stand, eingehüllt in das Dunkel von Himmel und Erde, das kein Licht zu durchdringen schien. Sie hatte ein wenig den Begriff für Zeit verloren, und wenn das erste Licht des Tages die stumme weiße Wüste zu entschleiern begann, dann fiel es ihr schwer, daran zu glauben, daß nun der Augenblick des Jahres gekommen war, an dem die Leute von Wapassou zu sagen pflegten: »Der Winter hat sich eingerichtet.« Auf keinen Fall kam sie hier herauf, um über ihre Einsamkeit nachzusinnen. Gab es nicht etwas, das jeden Tag sicher und jeden Tag neu war? Der Aufgang der Sonne? Das war Leben, das war Bewegung, das war Sprache. Ein grandioses Theater öffnete sich über die ganze Weite des Horizonts, und niemals war es dasselbe Bild.
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1987, Seite 354-355)
Dezember 2019
»(...) Warum schaut Ihr plötzlich so merkwürdig drein?« »Mir ist kalt.« Der König warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Kalt?« »Das Feuer ist erloschen, Sire. Wir befinden uns mitten im Winter, und es ist zwei Uhr früh.« Ludwigs Gesicht drückte belustigtes Erstaunen aus. (...) Er knöpfte seinen Leibrock aus dickem braunem Samt auf, zog ihn aus und legte ihn um ihre Schultern. Sie spürte, wie die Ausströmungen seiner männlichen Körperwärme sie einhüllten, vermengt mit jenem leichten, durchdringenden Irisparfüm, das der Monarch bevorzugte und das ihr seine verwunderliche und beklemmende Gegenwart zu Bewußtsein brachte. Es bereitete ihr ein geradezu sinnliches Vergnügen, die mit goldenen Borten besetzten Aufschläge des weiten Kleidungsstücks über der Brust zusammenzuziehen. Für eine Weile schloß sie die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie den König vor dem Kamin knien. Er schichtete Holzscheite auf und stocherte in der Glut, um das Feuer aufleben zu lassen.
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 359-360)
November 2019
Er wollte ihr bei der Auswahl des Kleides, das sie anläßlich ihrer Ankunft in Québec tragen würde, behilflich sein. Das war gar nicht leicht, denn sie waren alle wundervoll. Im Augenblick trug sie das purpurrote aus Italien. Die schweren Falten des kostbaren Samtkleides umschmeichelten ihre Figur und gaben ihr etwas Majestätisches. Joffrey trat hinter sie. Spielerisch bedeckte er die Blöße ihres Ausschnitts mit einem kostbaren Kollier: Es bestand aus kunstvoll aneinandergereihten Diamanten, die vor Rubinen eingefaßt waren, und schmückte den Ansatz ihrer Brüste wie unzählige Blumen. Er unterzog ihr Spiegelbild einer kritischen Prüfung. Und unwillkürlich wurde sie an jenen Tag erinnert, als er sein erstes Geschenk um ihren zarten Hals gelegt hatte. Damals war sie gerade ganze siebzehn Jahre alt gewesen. Und wieder zitterte sie unter der sanften Berührung seiner gebieterschen Hände. Sein Blick hatte immer noch das alte Feuer des Troubadours aus dem Languedoc - der goldenen Stimme von Frankreich. »Sollten wir nach all den Jahren an den Ausgangspunkt unseres Weges zurückgekehrt sein?« fragte sie sich. Mit Joffrey de Peyrac zu leben, war ein Abenteuer ohnegleichen.
(Golon, Anne. Angélique und die Verschwörung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1979, Seite 370-371)
Oktober 2019
Alljährlich, wenn sie gegen Anfang Oktober nach Wapassou, ihrem Lieblingswohnsitz, zurückkehrte, schwor sich Angélique, sich im nächsten Jahr einen ganzen Sommer hier zu gönnen. Der Zwang, die sonnigen Monate für Reisen zur Küste oder Besuche in Neufrankreich oder Neuengland zu nutzen, beraubte sie des Vergnügens, in Wapassou die Blütezeit zu erleben, wo die Heilpflanzen für die Arzneivorräte gesammelt und gepflückt werden mußten. Zum Glück besaß sie in der befreundeten Familie Jonas und mehreren Frauen der Niederlassung kundige Helfer, die während ihrer Abwesenheit die Pflanzen zum richtigen Zeitpunkt und nach ihren Anweisungen ernteten. An Arbeit mangelte es nicht in Wapassou, auf keinem Gebiet. Besonders dicht gedrängt war der Zeitplan in der Nachsaison, die oft prachtvoll, aber auch kurz sein konnte. Während hier die letzten großen Jagden gestartet und ausgiebig Wald- und Heide- früchte sowie Pilze gesammelt wurden, mußten diejenigen, die mit immer größeren Karawanen von Süden her eintrafen, sich gleich nach den ersten Regengüssen an die Arbeit machen und alles verstauen und überprüfen, bevor die schlechte Jahreszeit einsetzte. Alle Aufgaben, die der Winter noch schwieriger, wenn nicht gar unmöglich gestalten würde, mußten erledigt sein.
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1987, Seite 133)
September 2019
Am Morgen waren sie in der Kapelle des Eremiten erschienen, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Höchst ungern, ziemlich falsch, aber mit donnernden Stimmen hatten sie die Choräle mitgesungen. »Jammervoll«, berichtete Ville d'Avray kopfschüttelnd Angélique. »Sie haben uns grausam die Ohren vollgeschrien. Ah, Ihr werdet das Meßamt in Québec hören, meine Liebe! Den Chor der Kathedrale und den des Jesuitenklosters...« »Ihr scheint sehr überzeugt, uns in Québec zu sehen. Was mich betrifft, bin ich erheblich weniger zuversichtlich. Wir haben schon Anfang September. Ich weiß nicht, wann und wo ich meinen Mann treffen werde... Und auf jeden Fall kann ich den Winter nicht fern von meiner kleinen Tochter verbringen, die ich in einem einsamen Fort nahe der Grenze von Maine zurückgelassen habe.« »Nehmt sie doch mit«, sagte Ville d'Avray, als handelte es sich um das einfachste von der Welt. »Die Ursulinerinnen werden ihr das Alphabet eintrichtern, und auf dem St. Lorenz wird sie Schlittschuh laufen...« Das Fest versammelte alle Akadier der näheren Umgebung, zuzüglich einiger englischer und schottischer Kolonisten und der »Honoratioren« der benachbarten Stämme.
(Golon, Anne. Angélique und die Dämonin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 262)
August 2019
Unter den Bewerbern war ein Matrose mit grauem Haar, ein Mann von schwächlicher Gestalt, der infolge einer Fußverletzung für einige Tage von seinen üblichen Pflichten entbunden worden war. Der zweite Bewerber war ein gutaussehender, großgewachsener Maltese, mit dem sich die kleine Honorine bereits angefreundet hatte. Er hatte ihr, neben anderen Geschichten, schon einige Male erzählen müssen, wie es damals zugegangen war, als er, als Mitglied der Eskorte für den Grafen de Peyrac, auf die Hütte stieß, in der Ruth und Naomi wohnten. Der Maltese wiederholte jetzt die Geschichte, um Honorine eine Freude zu machen. Er stand da, rollte die Augen und beschrieb mit der Lebhaftigkeit eines Orientalen, wie die Hütte ausgesehen hatte. Die Hütte, so sagte er, habe auf einer Lichtung gestanden, und sie sei von einer Einfriedung aus großsen, weißen Steinen umgeben gewesen. Die Blumen, so fuhr er fort, seien bis zum Strohdach hinauf gewachsen, und außerdem habe es funkelnde Steine gegeben, die in die Balken eingelassen waren. Das Ganze habe ihn an jenen Tintenfisch erinnert, den man auf dem Grunde des Meeres finde, ein Wesen mit viel Phantasie, schleppe es doch Glasscherben und Tonscherben zu seiner Höhle, um den Eingang damit zu verschönen, ganz abgesehen davon, daß es auch Muscheln und Korallen zur Ausgestaltung des Höhleneingangs verwende, kurz, einfach alles, was glänze. Honorine hätte ihm Stunden zuhören mögen, aber sie brachte es nicht übers Herz, den hinkenden Matrosen zu enttäuschen. Sie wußte, daß dieser Mann auf der
Arc-en-Ciel trotz seiner grauen Haare die Stellung eines Schiffsjungen bekleidete, und natürlich wußte sie auch, daß die Schiffsjungen auf Segelschiffen die schwerste Arbeit verrichteten, viel schwerer als jene der richtigen Matrosen. Besonders jedoch empfand sie Mitleid mit dem Man, weil er verletzt war.
(Golon, Anne. Angélique und die Hoffnung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1985, Seite 199-200)
Juli 2019
»(...) Dann hat sich’s Cantor in den Kopf gesetzt, aufs Meer zu gehen, um ihn zu suchen.« »Warum aufs Meer?« »Weil das sehr weit ist«, sagte er mit einer vagen Geste. Offensichtlich war das Meer für ihn ein Begriff, von dem er keine rechte Vorstellung hatte: er mochte sich sagen, daß es zu grünen Paradiesen führen müsse, in denen alle Träume sich erfüllten. »Cantor hatte ein Heldenlied verfaßt«, fuhr Florimond fort. »Ich entsinne mich nicht mehr genau der Worte, aber es war sehr hübsch. Es war die Geschichte unseres Vaters. Er sagte: ›Ich werde überall dieses Lied singen, und viele Menschen werden ihn darin wiedererkennen und mir sagen, wo er ist …!« Angéliques Herz krampfte sich zusammen, und ihre Augen wurden feucht. Sie stellte sich die beiden vor, wie sie die unmögliche Odyssee des kleinen Troubadours auf den Spuren des legendären Mannes ausgeheckt hatten. (...) »... Mama, glaubt Ihr, daß er bei meinem Vater ist?« Angélique streichelte sein Haar, ohne ihm zu antworten. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm aufs neue klarzumachen, daß Cantor tot war, daß er gleich den Rittern vom Heiligen Gral die Suche nach dem Unerreichbaren mit dem Leben bezahlt hatte. Armer, kleiner Ritter! Armer, kleiner Troubadour! Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sein lebloses Gesicht mit den verschlossenen Lippen in den Fluten versank. Das Meer war ebenso unergründlich wie sein träumerischer Blick. »… nur durch sein Singen«, murmelte Florimond, der seinen Gedanken weiterspann. Sie hatte nicht gewußt, was diese treuherzigen Augen verbargen. Die Welt des Kindes, in der sich Torheit und Verständigkeit aufs wunderlichste vermengen, war ihr nicht mehr zugänglich. »Alle Kinder haben Dummheiten im Kopf«, sagte sie sich. »Das Schlimme ist nur, daß die meinen sie ausführen …!«
(Golon, Anne. Unbezähmbare Angélique. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1968, Seite 46-47)
Juni 2019
Sie lachte von neuem, wie berauscht und verzaubert von der Juninacht. Der rhythmische Ruf der Querpfeifen und Trommeln drang von unten herauf und übertönte die Dudelsäcke. Angélique sprang auf die Füße. »Miß Pidgeon, Mrs. MacGregor, Mrs. Winslow und ihr da, Esther, Dorothy, Janeton, kommt, kommt ... Tanzen wir die Fandarole mit den Basken.« Sie nahm sie bei der Hand und lief mit ihnen den Abhang hinunter. Die Basken bewegten sich einer hinter dem anderen barfuß und auf Zehenspitzen mit jähen Drehungen und wirbelnden Sprüngen voran, großartige Tänzer voller Grazie und Schwung. Im Schein der Feuer leuchteten ihre roten Mützen wie Klatschmohnblüten. Ein langer, geschmeidiger Teufel schwenkte vor ihnen ein mit klirrenden Kupferstücken besetztes Tamburin in der Luft, das er mit flinken Fingern schlug. Als Angélique und ihre Gefährtinnen im Lichtkreis der lodernden Reisighaufen auftauchten, stießen die Tänzer ein herzliches Begrüßungsgeheul aus und machten ihnen zwischen sich Platz. (...) Die Fandarole nahm ihren sich schlängelnden, tanzenden Verlauf zwischen den Feuern, den Häusern, den Felsen un Bäumen hindurch. Jede Frau, ob alt oder jung, Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, mußte in der Johannisnacht tanzen.
(Golon, Anne. Angélique und die Versuchung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 275-276)
April - Mai 2019
Was sie da erlebte, war unwirklich und verrückt! Sie war einsam, unsagbar einsam einem wirren Traum ausgeliefert, dessen sie sich beim Erwachen vielleicht nur mit größter Mühe entsinnen würde. Im Garten des Palais waren unter den Bäumen lange weiße Tafeln aufgebaut. Wein floß aus den Springbrunnen vor den Toren, und die Leute von der Straße durften ihn trinken. Adlige und hochgestellte Bürger hatten Zutritt zum Innern. Angélique, die zwischen dem Erzbischof und dem roten Manne saß und nicht fähig war, etwas zu sich zu nehmen, sah eine Unmenge von Gerichten vorüberziehen. Erstarrt in Beklemmung und Groll, fühlte sie sich von all dem Lärm und Überfluß erschöpft. Ihr angeborener Stolz verbot ihr, es zu zeigen, und sie lächelte und fand für jeden ein liebenswürdiges Wort. Nur war sie unfähig, sich dem Grafen Peyrac zuzuwenden, und obwohl sie sich ihres bizarren Verhaltens bewußt war, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren andern Nachbarn, den Erzbischof.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 133)
Februar - März 2019
»(...) Während ich heute abend über den Schriften saß, habe ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich mich gegen Euch nicht gerecht verhalten habe. Ich hätte Euch einen Vorschuß auf Eure Löh-nung geben müssen.« »Ihr seid nicht dazu verpflichtet, Maître Gabriel. Ich weiß, daß sich eine Dienstmagd erst einen Monat bei ihrer neuen Herrschaft bewähren muß, bevor sie ihren Lohn erhält.« »Aber Ihr seid ohne den geringsten Besitz zu mir gekommen. Und in der Bibel steht: ›Du sollst den armen und bedürftigen Söldner nicht unterdrücken, ob er nun einer deiner Brüder oder ein Fremder ist, der in deinem Land, innerhalb deiner Tore bleibt. Du wirst ihm den Lohn seiner Tagesarbeit vor dem Sinken der Sonne geben, denn er ist arm und bedarf seiner.‹ Ich habe deshalb beschlossen, Euch dies zu geben.« Er reichte ihr eine Börse, die er aus einem der Schöße seines Rockes gezogen hatte. »Allerdings ist es schon ein wenig nach Sonnen-untergang«, fügte er hinzu. Ein leiser Humor milderte zuweilen den Ernst und die Feierlichkeit seines Benehmens. In einer ande-ren Konfession, einer anderen Stadt geboren, dachte Angélique, hätte er ein geistreicher Epikureer sein können wie etwa der Chevalier de Mère.
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1969, Seite 336-337)
Dezember 2018 - Januar 2019
Gegen Ende des Banketts stahl sich Florimond davon, übergab seine Krone einem Diener und ging hinaus, um die Schützen zu dirigieren, die Zunder an die Lunten der Feuerwerksraketen legen sollten. Er selbst hatte die Aufstellung der Geschütze organisiert. Die Festgesellschaft trat auf die Terrasse des Schlosses Saint-Louis, die das Flußtal beherrschte. Die Schönheit der beleuchteten Landschaft, die Bewunderung der Zuschauer, die Umrisse der abgestuften Dächer und Schornsteine, das sanfte Mondlicht, der Winderschein des Schnees, der seinen eisigen Schild über die fernen Berge und den bleichen Lauf des St.-Lorenz-Tals legte - all das zusammen ergab eine unvergeßliche Nacht.
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 344)
Oktober - November 2018
Verstört lief sie durch die Gänge des Louvre. Sie suchte Kouassi-Ba! Sie wollte mit der Grande Mademoiselle reden! Vergeblich rief ihr von Angst zerrissenes Herz nach Trost und Stütze. Die Gestalten, denen sie begegnete, waren taub und blind, unbeständige Marionetten aus einer anderen Welt. Die Nacht brach an, und mit ihr erhob sich ein Sturm, der gegen die Scheiben peitschte, die Flammen der Kerzen niederdrückte, unter den Türen hindurchpfiff und die Vorhänge bauschte. Kolonnaden, Maskarone, feierliche Schatten der gewaltigen Treppen, vergoldete Tischlerarbeiten, Brücken und Galerien, steinerne Fliesen, verzierte Wandflächen und Karniese... Angélique irrte durch den Louvre wie durch einen finsteren Wald, ein tödliches Labyrinth.
(Golon, Anne. Angélique. Der Gefangene von Notre-Dame. Berlin: Blanvalet, 2009, Seite 27)
August - September 2018
»Der Wille ist eine magische und gefährliche Waffe«, sagte er. Angélique starrte ihn an, von jähem Zorn erfaßt, weil sie sich von ihm durchschaut fühlte. »Wollt Ihr sagen, daß es besser sei, sich vom Leben und den Ereignissen treiben zu lassen wie ein von den Fluten mitgerissener krepierter Hund?« »Unser Schicksal liegt nicht in unserer Hand, und an dem, was geschrieben steht, läßt sich nicht deuteln.« »Meint Ihr, daß man sein Schicksal nicht beeinflussen kann?« »Doch, man kann es«, sagte er ernst. »Alle Menschen haben eine gewisse Möglichkeit, dem Schicksal entgegenzuwirken. Das gelingt nur kraft des Willens. Und deshalb sage ich, daß der Wille eine Art Magie ist, da er die Natur bezwingt. Und daß er gefährlich ist, weil man das Resultat mit den Prüfungen des Lebens teuer bezahlt. Das ist der Grund, warum die Christen, die bei jeder Gelegenheit und zu kleinlichen Zwecken vom persönlichen Willen Gebrauch machen, ständig mit ihrem Schicksal hadern und sich von den Widrigkeiten entmutigen lassen, über die man sie so oft jammern hört.« Angélique schüttelte den Kopf. »Ich kann Euch nicht verstehen, Osman Bey. Wir gehören zwei verschiedenen Welten an.«
(Golon, Anne. Unbezähmbare Angélique. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1968, Seite 390)
Juni - Juli 2018
»Es war auf Schloß Plessis ... Ich war eben sechzehn geworden, und mein Vater hatte mir ein Regiment gekauft. Wir hielten uns wegen der Aushebung in der Provinz auf. Im Verlaufe eines Festes machte man mich mit einem Mädchen bekannt. Sie war in mei-nem Alter, aber in meinen aufgeklärten Augen war sie noch ein Kind. Sie trug ein graues Kleidchen mit blauen Schleifen am Mieder. Ich schämte mich, daß man sie mir als meine Kusine vorstellte. Doch als ich ihre Hand nahm, um sie zum Tanz zu führen, spürte ich, daß diese Hand in der meinen zitterte, und diese Berührung, dieses Zittern lösten eine ungekannte und köstliche Empfindung in mir aus. Bis dahin war ich es gewesen, der angesichts des gebieterischen Begehrens der reifen Frauen oder der anzüglichen Neckereien der jungen Koketten des Hofs gezittert hatte. Jenes kleine Mädchen gab mir ein lächerliches Selbstbewußtsein. Ihre bewundernden Augen spen-deten mir Balsam, einen berauschenden Trank, ich fühlte mich zum Manne werden, war nicht mehr Spielzeug; war Herr, nicht mehr Diener ... (...)«
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 235)
April - Mai 2018
Mit hochrotem Kopf bahnte sich Madame du Plessis mühsam einen Weg durch die bunte Menge der Kutscher und der Diener von offensichtlich minderem Rang, denn die meisten trugen weder Livree noch Insignien, und keiner erkannte jetzt die Herrin des Hauses. Einer von ihnen, ein rotnasiger Bursche, der penetrant nach Wein roch, machte ihr nur schimpfend Platz. »Drängle nicht, Schätzchen, kommst ohnehin zu früh! Da hat’s noch andere Leute und feinere als dich, die seit dem frühen Morgen warten.« Flipot suchte dem Unverschämten beizubringen, daß es die Hausherrin sei, mit der er rede. Doch der andere ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: »Mach mir nichts weis. Die Hausherrin hier ist eine millionenschwere große Dame, der der König nicht von den Fersen weicht, wie man sich erzählt. Sie würde nicht in einem so alten Kasten hier angeschaukelt kommen, noch dazu mit so einem Windhund wie du hintendrauf.«
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 92-93)
März 2018
»Stellt Euch vor, die gesamten Plessis-Leute – Marquis, Marquise, Sohn, Pagen, Diener, Hunde – sind soeben auf ihrem Besitz gelandet. Sie haben einen illustren Gast bei sich, den Fürsten Condé mit seinem ganzen Hofstaat. Ich bin mitten hinein geplatzt und habe mich ziemlich überflüssig gefühlt. Aber mein Vetter war sehr liebenswürdig. Er hat sich nach unserer Familie erkundigt, und wißt Ihr, worum er mich gebeten hat? Ihm Angélique zu bringen, die eine der Damen der Marquise vertreten soll. Die Ankunft des Prinzen Condé bringt sie in Verlegenheit. Sie braucht anmutige kleine Kammerzofen zu ihrer Hilfe.« »Und warum nicht mich?« rief Hortense empört aus. »Weil er ›anmutig‹ gesagt hat«, gab ihr Vater ohne Umschweife zurück.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 64)
Februar 2018
»Die zärtlichen sind tränenselig und dumm. Die ehrgeizigen müssen die Zuchtrute spüren, um nicht alles zu verschlingen. Aber Ihr ... Ihr seid geschaffen, Sultanin-baschi zu werden, wie jener dunkelhäutige Fürst sagte, der Euch entführen wollte. Diejenige, die die Könige beherrscht... Und ich bin gewillt, Euch diesen Titel zu gewähren. Ich beuge mich. Ich liebe Euch auf hunderterlei Weise. Ich liebe Eure Schwäche, Eure Wehmut, die ich aufhellen, Euren Glanz, den ich in Besitz nehmen möchte, Eure Klugheit, die mich reizt und verwirrt, die mir jedoch unentbehrlich geworden ist wie jene kostbaren, in ihrer Vollkommenheit fast zu schönen Gegenstände aus Gold und Marmor, die man um sich haben muß als Pfänder des Reichtums und der Stärke. Ihr habt mir ein ungewohntes Gefühl eingeflößt: Vertrauen.«
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 433-434)
Januar 2018
In Quebec konnte man plaudern und flirten, aber das solide Gerüst moralischer Grundsätze verhinderte, daß jemand wirklich über die Stränge schlug. So verlief ein kleines Abenteuer immer innerhalb der Grenzen des Schicklichen. Ville d'Avray hingegen behauptete, Quebec sei wie geschaffen für köstliche, ehebrecherische Abenteuer. Sie seien nur um so köstlicher, als sie mit Argusaugen beobachtet würden. Doch fanden diese Abenteuer wirklich statt? Das war die Frage, eine Frage, die sich wie ein duftiger Schleier zwischen die auf des Gouverneurs Alleen promenieranden Paare schob. Bei den Franzosen konnte man nie sicher sein, ob ein Lächeln, ein Händedruck, ein zärtlicher Blick nur der reinen Höflichkeit entsprang oder geheimes, vielversprechendes Zeichen für eine leidenschaftliche Begegnung war.
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 398)
Dezember 2017
Und mit einem Mal kam der Dezember mit seinen eisigen Nebelschwaden, den vier von Gebeten und allabendlichen Andachten in einer nahen Kirche erfüllten Adventswochen... und schließlich Weihnachten. Angélique erschrak bei dem Gedanken, dass das Jahr zu Ende gehen würde, ohne dass Joffreys Schicksal geklärt wäre. Hier in der Île-de-France spürte man den Wechsel der Jahreszeiten sehr viel stärker als im Süden, wo zu jeder Zeit die Sonne schien. Hier war Weihnachten das Mysterium des Lichts, das in die dunklen, kalten Tage einbrach. Und wer sich zu Weihnachten nicht in den sanften Schoß einer Familie zurückziehen konnte, litt eine noch bitterere Einsamkeit. Zwei Wochen vor Weihnachten begann es zu schneien. Die Stadt legte ihr Festkleid an. In den Kirchen wurden Krippen aus dicker Pappe oder Rocaille aufgebaut, in denen die Figuren der Geburt Christi ihren Platz fanden: das Jesuskind eingerahmt von Ochs und Esel, die es mit ihrem Atem wärmten.
(Golon, Anne. Angélique. Der Gefangene von Notre-Dame. Berlin: Blanvalet, 2009, Seite 83)
November 2017
In Wapassou sah es schon recht herbstlich aus. Die Schwäne, die Enten, die weißen Gänse und die Ringelgänse waren über das Fort hinweggezogen, und die Vögel hatten ein Kreuz am Himmel gebildet, ein Kreuz aus schwarzen Punkten. Die Bienen hatten ihre Waben noch in den Zweigen errichtet. Dies war ein Zeichen, daß es einen strengen Winter geben würde. Madame Jonas beeilte sich, Angélique die Vorräte vorzuführen, die für den Winter angelegt worden waren. Sie zeigte ihr das Obst, das geschnitten und an Fäden zum Trocknen aufgehängt worden war. Es gab wilde Beeren, Birnen, Walnüsse, Haselnüsse, Bucheckern und Pilze verschiedener Sorten. Für den Fall äußerster Not hatten die Frauen Klettenwurzeln gesammelt, die man in Salzwasser garkochen konnte, außerdem Eicheln, die eßbar waren, falls man nach dem ersten Kochgang den Sud fortschüttete.
(Golon, Anne. Angélique und die Hoffnung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1985, Seite 372)
Oktober 2017
Er trat ein. Er ahnte, daß sie schon schlief. In der Luft hing noch der Duft eines Parfüms, das ihm so vertraut geworden war. Er mußte lächeln, als er die achtlos hingeworfenen Kleider sah. Wo war die wilde, kleine Hugenottin von La Rochelle in Dienstmagdkleidern, die der Rescator auf der Reise nach Amerika in seine Luxuskabine hatte kommen lassen, um zu versuchen, sie zu zähmen? Und wo war die Pionierin, die während jenes schrecklichen Winters am oberen Kennebec nicht von seiner Seite gewichen war und ihm mit ihrem grenzenlosen Mut beigestanden hatte? Er hob ein Spitzenkorsett auf, das ihre wundervollen Rundungen ahnen ließ. Erst anonyme Dienerin, dann tapfere Kameradin eines Eroberers der Neuen Welt, war seine Angélique schließlich wieder Madame de Peyrac, Comtesse de Toulouse geworden. »Gott hat es so gewollt«, murmelte er und warf einen leidenschaftlichen Blick zum Alkoven hinüber, wo sich ihr prächtiges Haar über die Kissen breitete.
(Golon, Anne. Angélique und die Verschwörung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1979, Seite 75-76)
September 2017
Der September kam und war kalt und regnerisch. »Es wird Winter«, seufzte Pain-Noir und flüchtete mit seinen durchnäßten Hadern ans Feuer. Das feuchte Holz zischte im Kamin. Ausnahmsweise warteten die Bürger und Kaufleute von Paris nicht Allerheiligen ab, um ihre Winterkleider hervorzuholen und sich zur Ader zu lassen, den Traditionen der Hygiene gemäß, die empfahlen, sich bei jedem Wechsel der Jahreszeiten, also viermal im Jahr, der Lanzette des Chirurgen zu überliefern. Aber die Edelleute und die Gauner hatten andere Sorgen, als sich über Regen und Kälte zu unterhalten. Alle hohen Persönlichkeiten des Hofs und der Finanzwelt standen unter dem Eindruck der Verhaftung des steinreichen Oberintendanten der Finanzen, Monsieur Fouquet.
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 562-563)
August 2017
Diesmal war es ein Lächeln, mit dem er ihre Worte bremste. Es enthüllte den Schimmer prachtvoll gebliebener Zähne. Es war gewiß das Lächeln des Letzten der Troubadours, doch verschleiert von ei nem melancholischen Gefühl der Enttäuschung und Ernüchterung. »Fünfzehn Jahre, Madame! Denkt daran! Es wäre eine unwürdige und dumme Komödie, wenn wir versuchen wollten, uns zu belügen. Wir beide haben inzwischen andere Erinnerungen gesammelt. Andere Lieben …«
Es war, als ob die Wahrheit, der sie sich ins Gesicht zu sehen weigerte, sie wie die geschärfte, eiskalte Spitze eines Dolches durchdrang.
Sie hatte ihn wiedergefunden, aber er liebte sie nicht mehr. In den Träumen ihres ganzen Lebens hatte sie ihn immer gesehen, wie er ihr die Arme entgegenstreckte. Diese Träume – es wurde ihr heute klar – waren kindisch wie die meisten weiblichen Phantasievorstellungen. Das Leben prägt seine Spuren in einen härteren Stoff als das simple, weiche Wachs der Träume. Seine Form gestaltet sich in heftigen, einschneidenden Zuckungen, die verletzen und Schmerz bereiten.
(Golon, Anne. Angélique und ihre Liebe. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1977, Seite 92)
Juli 2017
Als Angélique erschien, fand sie Monsieur de Ville d'Avray in einer zwischen zwei Pfählen aufgehängten baumwollenen Hängematte. Sein Söhnchen spielte zu seinen Füßen mit Holzklötzen. »Das ist eine echte Hängematte von den Karibischen Inseln«, erklärte ihr der Gouverneur. »Äußerst bequem. Man muß es nur verstehen, sich richtig in ihr auszustrecken, von einer Ecke zur anderen, dann ruht man herrlich. Ich habe sie mir für ein paar Stränge Tabak von einem geflüchteten karibischen Sklaven eingehandelt.«
(Golon, Anne. Angélique und die Dämonin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 250)
Juni 2017
Philippe du Plessis hatte sehr helle blaue Augen, die aber kalt wie Stahl wirkten. Der gleiche Blick, der die verblichenen Tapeten, das kümmerliche Feuer im Kamin und sogar den alten Großvater mit seiner altmodischen Halskrause gestreift hatte, wandte sich nach der Tür, und die blonden Brauen des Jünglings hoben sich, während sein Mund sich zu einem spöttischen Lächeln verzog: Madame de Sancé trat in Begleitung Hortenses und der beiden Tanten ein. (...) Angélique, die ihn nicht aus den Augen ließ, verspürte die größte Lust, ihm mit allen vieren ins Gesicht zu springen. War nicht vielmehr er selber lächerlich mit all seinen Spitzen, den wehenden Bändern auf der Schulter und den von der Schulter bis zu den Handgelenken aufgeschlitzten Ärmeln, die das feine Leinen des Hemdes sichtbar machen sollten?
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 43)
Mai 2017
Nie ist eine Frau verletzlicher, als wenn sie über eine Trennung hinweggetröstet werden will. Die Männer, die Ehemänner sollten das wissen. (...) Träumend in der einlullenden Bewegung des Schiffs, ließ sie ihre Gedanken sich im Mondlicht verlieren, ließ sie die Schatten der Männer, die sie einst gekannt hatte, zu sehr spezieller Auslese an sich vorüberdefilieren, und unter ihnen gewahrte sie, ohne recht zu wissen, warum, das offene Antlitz des Grafen de Loménie-Chambord und, fern, feierlich, aber so gütig, die edle Gestalt des Abbés von Nieul.
(Golon, Anne. Angélique und die Versuchung. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 197-198)
April 2017
Die Himbeersträucher um Abigaëls Haus zogen die Turteltauben an. Es waren hübsche, zartgliedrige und graziöse Vögel mit beigebläulichem Gefieder und schmalem langem Hals, deren ununterbrochenes Gurren etwas Einlullendes hatte. Wer nahe den Wäldern lebte, beklagte sich über sie, doch Abigaël, die sich an allem erfreute, liebte sie. Das Gurren schläferte die Kinder besser ein als jedes Wiegenlied. Lächelnd stand sie auf der Schwelle und blickte ihrem Gatten, der mit Angélique zu ihr heraufstieg, entgegen. »Ihr seid hoffentlich nicht eifersüchtig, Abigaël?« rief Angélique ihr schon von weitem zu. »Heute nicht. Aber ich bin's gewesen, und zwar schrecklich eifersüchtig, (...).«
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, 1987, Seite 128)
März 2017
Bei der französischen Armee lud der König die Damen an seinen Tisch. Eines Abends fiel sein Blick beim Souper auf Angélique, die in seiner Nähe saß. Die Freude über die jüngsten Siege seiner Truppen und den intimeren, den er höchstpersönlich über Madame de Montespan davongetragen, hatte sein gewohntes Beobachtungs-vermögen um einiges geschmälert. Er glaubte die junge Frau zum erstenmal während des Feldzugs zu bemerken und fragte liebenswürdig: »Ihr habt also die Hauptstadt verlassen, Madame? Was tat sich in Paris, als Ihr abreistet?« Angélique sah ihm kühl ins Gesicht. »Sire, man ging zur Vesper.« »Ich meine, was es Neues gab?« »Grüne Erbsen, Sire.«
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 206-207)
Februar 2017
Sie führte ihn in den anstoßenden Salon, wo sie eigens für ihn einen Tisch hatte decken lassen. Die Kerzen an beiden Enden beleuchteten eine mit Kastanien gefüllte, knusprig braun gebratene Pute. Schüsseln mit warmen und kalten Gemüsen, einem Aalgericht, Salaten und Früchten umgaben sie aufs appetitlichste. Zu Ehren des armen Mannes aus den Wäldern hatte Angélique besonders schönes Tafelgeschirr herausgegeben.
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 411)
Januar 2017
Unter den Regimentern, die der König 1673 ins Poitou entsandte, befanden sich das 1. Regiment der Auvergne, befehligt von Monsieur de Riom, und fünf der ruhmreichsten Kompanien aus den Ardennen. Der König hatte von der abergläubischen Furcht der Soldaten vor den heimtückischen Fallen der Wildnis des Poitou gehört. Diejenigen, die er nun schickte, Söhne der Wälder der Auvergne und der Ardennen, waren seit ihrer Kindheit an die unheilkündende Dämmerung unter den Bäumen, an Wildschweine, Wölfe und Felsen gewöhnt und verstanden es, unsichtbaren Fährten zu folgen. Ihre Väter waren Holzschuhmacher, Holzfäller oder Kohlenbrenner. (...) Der König hatte gesagt: Vor dem Frühling. Der Winter würde den Krieg diesmal nicht zum Stillstand bringen.
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1969, Seite 250-251)
Dezember 2016
Angélique sah in diesem Traumkleid fast unwirklich schön aus. Ihre bernsteinfarbene Haut, die sie gepudert hatte, schimmerte, ja, sie schien wie von innen her erleuchtet. (...) Delphine, das junge Kammermädchen, rief Henriette und Yolande und bat sogar den Schneider und Kouassi-Ba um Hilfe, denn diesen Mantel zu tragen, war keine leichte Sache. Er war aus weißem Pelz, mit feiner Wolle und weißem Satin gefüttert, er hatte eine weite Kapuze, und der Kragen war mit Gold- und Silberfäden bestickt. Man mußte achtgeben, daß er nicht am Boden schleifte, denn auf dem Schiff blitzte nicht gerade alles vor Sauberkeit.
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1981, Seite 11-12)
November 2016
Florimond warf sich mit blitzenden Augen auf sein Lager zurück. »Ah, der Degen! Die wahre Waffe des Edelmanns. In diesem Kuhbauernland hier weiß man nicht mehr, was ein Degen ist. Man schlägt sich mit Keulen und Äxten wie die Indianer oder mit der Muskete wie ein Söldner. Man muß ihnen den Degen wieder in Erinnerung bringen. Er ist der Dolch der noblen Seelen! … Ah, wie schön wär’s, eines Tages zum Hahnrei gemacht zu werden und sich hinterher ein anständiges Duell leisten zu können!«
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 406)
Oktober 2016
Jäh verstärkte sich das Gebell der Meute, und ein in langen Sätzen dahinschießendes braunes Etwas wurde am Waldrand sichtbar. Es war der Hirsch, ein noch sehr junges Tier mit kaum gegabeltem Geweih. Einem weißen und fuchsroten Strome gleich, jagte die Masse der Hunde hinter ihm her. Dann brach ein Pferd aus dem Gebüsch hervor, auf dem eine Amazone in roter Reitjacke saß. Fast zu gleicher Zeit galoppierten aus allen Richtungen Reiter den Abhang hinunter, und von einem Augenblick zum andern war das idyllische Tälchen von einem barbarischen Lärm erfüllt, in dem sich das hartnäckige Bellen der Hunde, das Wiehern der Pferde, die Rufe der Jäger und das Geschmetter der Hörner, die das Halali bliesen, vermischten.
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 34)
September 2016
Angélique fragte sich noch immer, ob er wirklich wußte, wohin er ritt, oder ob sie nur der Zufall schließlich doch zum sicheren Hafen führte. Hundertmal hatten sie sich verirren, hätten sie umkommen müssen. Aber Tatsache war, daß niemand umkam. Und seit drei Wochen hatten sich die Angehörigen der kleinen Karawane, die in der zweiten Oktoberhälfte von Gouldsboro aufgebrochen war, in ihr Schicksal gefügt: braungebrannt, die Augen blank vom gleißenden Licht, vom Blau des durch das vielfarbige Kaleidoskop des Laubwerks erspähten Himmels, in ihrer Kleidung die Gerüche der Holzfeuer und des Herbstes, des Harzes und der Himbeeren. In der ungewöhnlichen Wärme dieses Spätherbstes verflog der Dunst der Seen in den ersten Morgenstunden, enthüllte glitzernde, klare Wasserflächen und ließ im Unterholz eine Trockenheit zurück, deren Knacken weithin hallte.
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Gütersloh: Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, 1978, Seite 9)
Juli - August 2016
Als sie den Quai de la Tournelle erreichte, nahm sie den Geruch frischen Heus wahr. Das erste Heu des Frühlings. Zillen reihten sich da mit ihrer leichten und duftenden Ladung aneinander. Sie sandten einen Schwall warmen Weihrauchs in die Pariser Morgendämmerung, das Aroma tausend getrockneter Blüten, die Verheißung schöner Tage. (...) Sie watete ins Wasser und schwang sich auf einen der Kähne. Dann wühlte sie sich wollüstig ins Heu. Unter der Plane war der Duft noch berauschender: feucht, warm und gewitterschwanger wie ein Sommertag. Woher dieses frühe Heu wohl kam? Von einem stillen und reichen, fruchtbaren, von der Sonne verwöhnten Landstrich. Dieses Heu brachte die friedliche Weite luftiger Horizonte mit sich und auch das Mysterium eingeschlossener Täler, die die Wärme speichern und mit ihr die Erde nähren.
(Golon, Anne. Angélique. Berlin: Blanvalet, 1956, Seite 534)
Mai - Juni 2016
Angélique wüste das ihr Kind würde einen Weg gehen, auf dem sie ihm nicht folgen könnte. Die Minuten, die sie jetzt miteinander verbrachten, würden nie wiederkehren. Lange Zeit würde vergehen, bis sie wieder mit Honorine sprechen könnte, und das Mädchen würde nicht mehr dasselbe sein, wenn sie sich wiedersahen. Heute sprach sie noch mit der Naivität eines Kindes. Bis zum nächsten Wiedersehen würde sie gelernt haben alle Gedanken durch den Filter der Vernunft zu schicken. War das nicht der Ziel jeder Erziehung? Honorine werde lernen, was man tut, wie man denkt, ob man etwas sagt oder ob man es besser verschweigt. Und das war schade. Es war recht lustig. Honorine zuzuhören, so wie sie heute war.
(Golon, Anne. Angélique und die Hoffnung. Herrsching: Schuler Verlag, 1990)
April 2016
Es war ein langer, lichter Frühlingsabend; am Himmel von Paris jagten sich die Schwalben. Die untergehende Sonne warf goldene Tupfen in den Salon. Doch die Heiterkeit der Natur vermochte Angéliques Beklommenheit nicht zu lösen. Ihre Finger spielten nervös mit einem auf ihrem Schoß liegenden Päckchen. (...) Sie hatte sich vorher überlegt, welche Haltung sie dem alten Freunde gegenüber annehmen sollte, den sie seit langen Jahren nicht mehr gesehen hatte. In der panischen Angst, die sie zu ihm trieb, hätte sie sich ihm am liebsten an den Hals geworfen, aber es war ihr klargeworden, daß sich in ihrer Stellung dergleichen nicht schickte. Zuviel Zeit war inzwischen verstrichen, die sie voneinander entfernt hatte, und auch er war gewiß ein anderer geworden.
(Golon, Anne. Angélique und der König. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1959, Seite 485)
März 2016
»Maister Berne, (...) Hier in der Neuen Welt sind wir zwar alle voneinander verschieden, aber einander doch ähnlich. Und das schweißt uns zusammen und macht unsere Stärke aus. Wie oft senke ich die Augen und sehe Eure Schuhe an...« »Meine Schuhe? Was soll denn das?« »Ich weiß nicht, ob es noch dieselben sind, die ich vom Lichtschacht meiner Gefängniszelle aus sah: die Schuhe meines Retters! Er war ein Mann, der draußen vorbeiging, war er ein Bürger, ein Richter, ein Wächter, ein Priester oder Edelmann? Ich rief ihm zu: "Wer Ihr auch sein mögt, rettet mein Kind, das ich allein im Wald zurückgelassen habe!" Und wegen dieser Erinnerung werde ich mich nie mit Euch überwerfen, wenn Ihr es auch schon oft genug verdient hättet!«
(Golon, Anne. Angélique triumphiert. Herrsching: Schuler Verlag, 1990, Seite 131)
Februar 2016
Nach kurzer Rast machten sie sich von neuem auf den Weg. Sie sprachen wenig, bewahrten ihre Kräfte für die fast übermenschliche Anstrengung des langen Marsches. Die mit Kordeln bespannten Schneereifen behinderten sie bei jedem Schritt, da sie nicht immer ausreichten, sie an der Oberfläche des weichen oder pudrigen Schnees zu halten. Kaum hatten sie sie mühsam herausgezogen, sanken sie unter ihrer Last von neuem ein. Florimond erklärte brummend, daß man für das Gehen im Schnee unbedingt etwas Neues erfinden müsse. (...) Florimonds Muskeln schmerzten ihn. Er, der sich jung und stark glaubte, stellte fest, daß er schwächli-che Arme hatte, wenn er zehnmal hintereinander in zwanzig Minuten den notwendigen Kraftaufwand aufbringen mußte, um sich an den Zweigen einer Tanne aus einer Schneeverwehung zu ziehen.
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1969, Seite 579-580)
Januar 2016
Kouassi-Ba ging hinter ihnen entlang und legte mit seiner schwarzen Hand, der Hand eines Weisen aus dem Morgenlande, vor jedem einen Goldbarren auf den Tisch. (...) Der alte Eloi schwenkte seinen Anteil. »Ihr habt Euch geirrt, Herr Graf. Ich gehöre nicht zu Euren Leuten. Ich bin einfach gekommen und bin geblieben. Ihr schuldet mir nichts.« »Du bist der Arbeitsmann der elften Stunde, alter Freibeuter,« erwiderte Peyrac. »Kennst du dein Evangelium? … Ja? Nun, denk darüber nach und nimm, was man dir gibt. Du wirst dir ein neues Kanu und Handelsware für zwei Jahre leisten und alles Pelzwerk des Westens dafür eintauschen. Deine Konkurrenten werden vor Neid erblassen.«
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1969, Seite 655 und 657)
Dezember 2015
Madame de La Vaudière triumphierte. »Das dachte ich mir doch! Herr de Peyrac ist bei den Jesuiten.« (...) Frau de la Vaudière schien mit den Örtlichkeiten vertraut und keinerlei Furcht zu empfinden. Sie ließ sich nicht wie Angélique von der Gekachelten Vorhalle beeindrucken, in der einige Stühle standen und die nur ein grosses Kruzifix an der Wand und ein Weihwasserbecken rechts neben der Tür schmückte. Bérengère-Aimée tauchte die Fingerspitzen mit einer Mischung aus Ungezwungenheit und Demut hinein, die als ein Meisterwerk weiblicher Anmut und Scheinheiligkeit betrachtet werden musste. Dabei zeigte si einen nicht zu bestreitende Charme und die ebenso heitere wie fromme Ungezwungenheit, die einer bestimmten Kategorie von Engeln eigen ist, welche den Thron des Allerhöchstens umgeben und kaum eine andere Rolle zu spielen scheinen, als eine etwas schalkhafte Note einzubringen.
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin. Gütersloh: Bertelsmann, 1981, Seite 200)
November 2015
Und so spürten sie alle, gleichermaßen beruhigt und erregt von diesen märchenhaften Geschichten, wie in ihnen die kristallklare diamantharte Seele der Provinzen aufblühte, und in der Stille wurden sie sich mit Wonne der dicken schützenden Mauer ringsum bewusst, der treuen Wehrhaftigkeit des alten Bauwerks, das wie eine schwarze felsige Insel in der Dunkelheit aufragte, zwischen den beiden ursprünglichen Elementen der Schöpfung, dem Wasser der Sümpfe in der einstigen Meeresbucht, aus der sich die brackigen Fluten des Ozeans zurückzogen hatten, und dem sanften Kräuseln des riesigen keltischen Waldes, der die Landspitzen am Ende der Welt bedeckte.
(Golon, Anne. Angélique. Die junge Marquise. München: Weltbild, 2012, Seite 24)
Oktober 2015
Es gelüstete sie nach allen köstlichen und wertvollen Dingen, die das Leben zu bieten hatte. Dieser Hunger nach Besitz war die Reaktion auf die Jahre des Elends, die sie durchgemacht hatte. Wunderbarerweise war es nicht zu spät für sie. (...) Sie staunte zuweilen und dankte insgeheim dem Himmel, daß sie nicht für immer gebrochen aus ih-ren Prüfungen hervorgegangen war. Im Gegenteil, ihr Geist blieb jugendlich und ihre Begeisterungsfähigkeit ungemindert.
Sie besaß mehr Erfahrung als die Mehrzahl der jungen Frauen ihres Alters, und sie war weniger ernüchtert. Ihr Leben war durchsetzt mit kleinen Freuden und voller Wunder gleich dem der Kinder. Konnte man mit vollem Genuß in ein Stück frischen Brotes beißen, wenn man den Hunger nicht kennen-gelernt hatte? Und hatte man nicht Anlaß, sich für die glücklichste Frau der Welt zu halten, wenn man einmal barfuß durch die Straßen von Paris gewandert war?
(Golon, Anne. Angélique und der König. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1961, Seite 7-8)
September 2015
Angélique stritt sich mit den Vögeln um die letzten roten Früchte der Eberesche und die schwarzen des Holunders. Mit ih-nen würde sie Fieber, Bronchitis und rheumatische Schmerzen bekämpfen. Sie schickte Elvire und die Kinder zum Pflücken von allem, was sich noch an Eßbarem an Büschen, im Wald oder auf der Heide finden ließ: verschiede-ne Beerenarten, Heidelbeeren, Preiselbeeren, kleine, verkümmerte wilde Äpfel oder Birnen. Es schien wenig, wenn man die vielen Mägen in Betracht zog, die gesättigt werden wollten, aber der Wert der kümmerlichen Ernte war groß, denn eine kleine Dosis dieser getrockneten Früchte würde viel-leicht schon genügen, sie gegen Ende des Winters vor dem Skorbut zu bewahren.
(Golon, Anne. Angélique und Joffrey. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1969, Seite 407)
Juli - August 2015
Die Wächter hatten Angélique losgelassen. Sie wandte sich um und entdeckte das Meer, die endlose, amethystfarbene, silberdurchfurchte Flache. Unvorstellbar, daß auf der anderen Seite dieses Traumbilds die europäischen Gestade lagen, ihre hohen Häuser aus braunem oder grauem Stein, deren Mauern tausend der Neugier dienende Öffnungen hatten, deren Dächer jedoch dem Himmel verschlossen waren. Angélique lehnte sich an die Brüstung. Auf dieser Terrasse befanden sich noch andere Frauen. Stumm hockten sie auf ihren Polstern, und auch die Dienerinnen, die ihnen Tee einschenkten und Kuchen reichten, schienen noch schüchtern,...
(Golon, Anne. Unbezähmbare Angélique. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1962, Seite 535)
Juni 2015
»Und ich finde, daß Ihr und Eure Familie reichlich empfindliche Leute seid«, gab Angélique zurück, deren Zorn die Angst besiegte. »Ob man Euch feiert oder hätschelt, Ihr ärgert Euch, weil der Edelmann, der Euch bei sich empfängt, reicher zu sein scheint als Ihr. Wenn man Euch Geschenke darbringt, so ist das eine Unverschämtheit; wenn man Euch nicht ehrerbietig genug grüßt, desgleichen. Wenn man nicht wie ein Bettler lebt und nicht so lange die Hand hinhält, bis der Staat ruiniert ist, wie das so üblich ist, dann ist das verletzende Arroganz. Wenn man seine Steuern auf Heller und Pfennig bezahlt, so ist das eine Herausforderung. ...Eine Bande von Zänkern, das ist es, was Ihr seid, Ihr, Euer Bruder, Eure Mutter und Eure ganze heimtückische Vetternschaft: Condé, Montpensier, Soissons, Guise, Lorraine, Vendôme...«
(Golon, Anne. Angélique. Berlin: Blanvalet, 1956, Seite 326)
April - Mai 2015
Der Pförtner schüttelte den Kopf. Die Heilige Wo-che stand unmittelbar bevor. Das Kloster hatte sich schon gegen die Außenwelt verschlossen. Wirklich lastete ein noch drückenderes Schweigen als gewöhnlich über der Abtei, Die geweihten Männer sammelten sich für die Wallfahrt der Tage vor Ostern. Die Frau mußte sich entfernen. (...)
Drei Wochen zuvor hatte sie sich gerade hier, von schneidender Kälte gepeinigt, durch den Schnee ge-schleppt, hatte sie in ihrem Fleisch die ganze Grau-samkeit des harten Winters erlitten. Heute schien das Tal wie mit grünem Samt ausgeschlagen, der Bach, dessen Eis sie damals überquert hatte, hüpfte spru-delnd wie ein junges Zicklein, Veilchen schmückten den Saum des Waldes. Der Kuckuck stieß seinen leichtfertigen Ruf aus. Er kündigte laue Lüfte und das Aufblühen der Blumen an, er vollendete den Frühling.
Angéliques Blick feuchtete sich vor diesen Wun-dern. Auch Natur und Leben warteten also mit huldreichen Überraschungen auf. Aus einem langen und strengen Winter sproß mit verdoppelter Kraft der Reichtum der Blätter, Gräser und Blüten...
(Golon, Anne. Angélique, die Rebellin. Stuttgart: Deutscher Bücherbund, 1963, Seite 373-374.)
März 2015
Diese letzte Schwelle, die es zu überschreiten galt, um wieder im Licht des Sonnenkönigs zu erscheinen – die Verheiratung mit Philippe –, erwies sich als zu hoch. Übrigens, sagte sie sich jetzt, hatte sie immer gewußt, daß es zu schwierig sein, daß sie nicht genug Kraft haben würde. Sie war verbraucht, am Ende… Sie war nur eine Schokoladeverkäuferin und würde niemals vom Adel anerkannt werden. Man empfing sie, aber man nahm sie nicht auf… Versailles! Versailles! Der Glanz des Hofs, der strahlende Sonnenkönig! Philippe! Der schöne, unnahbare Gott Mars…! Sie würde auf das Niveau eines Audiger zurückgleiten, und ihre Kinder würden nie Edelleute werden…
Sie war so in ihre Gedanken versponnen, daß sie nicht merkte, wie die Zeit verrann. Das Feuer erlosch im Kamin, die Kerze blakte.
(Golon, Anne. Angélique. Berlin: Blanvalet, 1956, Seite 743)
Februar 2015
»Meine Lämmlein«, sagte Monsieur Vincent, »ihr Kinder des lieben Gottes, ihr habt versucht, die grüne Frucht der Liebe zu naschen. Deshalb sind eure Zähne stumpf und eure Herzen voller Traurigkeit. So laßt an der Sonne des Lebens reifen, was zu seiner Zeit sich entfalten wird. Man darf keine Irrwege gehen, wenn man die Liebe sucht, denn dann findet man sie womöglich nie. Welch grausame Strafe für die Ungeduld und die Schwäche, sein Leben lang dazu verdammt zu sein, nur in bittere und saftlose Früchte zu beißen!(...)« (...)
Angélique schaute starr vor sich hin, bis sie die Pforte des Klosters erreichte. Ein großer Friede erfüllte sie. Seltsam, sie hatte den Pagen vergessen und jenen enttäuschenden Vorgeschmack fleischlicher Lust. Doch ihre Schulter bewahrte die Erinnerung an eine alte, warme Hand.
(Golon, Anne. Angélique. Berlin: Blanvalet, 1956, Seite 94-95)
Januar 2015
»Was haltet Ihr von einem Sturm vor der Küste Neuschottlands? Prachtvoll, nicht wahr? Nicht zu vergleichen mit den Miniaturstürmen des kümmerlichen Mittelmeers. Glücklicherweise ist die Welt weit und kommt einem nicht nur mit Harmlosigkeiten.« Er lachte.
Dieses Lachen empörte Angélique so sehr, daß es ihr trotz des Bleigewichts ihres mit Wasser vollgesogenen Rocks gelang, sich aufzurichten.
»Ihr lacht!« rief sie zornig. »Ihr lacht über alle Stürme, Joffrey de Peyrac, über alle Qualen. Ihr singt auf dem Vorplatz von Notre Dame. Was kümmert’s Euch, daß ich weine? Was kümmert’s Euch, daß ich mich vor Stürmen ängstige, selbst denen des Mittelmeers, ohne Euch?«
(Golon, Anne. Angélique und ihre Liebe. München: Blanvalet, 1963, Seite ...)
Dezember 2014
So geht ein Mann fort in die Wüste. Die vier Adventwochen begannen. Weihnachten rückte näher. Weihnachten! Weihnachten! Und wären die Glocken läuten und der Atem des Lebens aus allen Schornsteinen steigt und die Düfte der Festessen sich mit den Gerüchen nach Weihrauch und brennenden Kerzen vermischen. Die zum eisigen Himmel hinaufströmen, um dem Schöpfer zu zeigen, dass hier Menschen sind in dieser unmenschlichen Wüste, entfernt sich ein Mann der durch das Gehorsamgelübde gebunden ist, von jeder sicheren Zuflucht, verlässt ein Schwarzrock mit dem schweren Schritt seiner Schneeschuhe den Kreis seiner Freunde, die liebende Mitte der Seinen und das Allerheiligste seiner Werke und seiner Taten.
(Golon, Anne. Angélique, die Siegerin, Fünfter Teil. München: Blanvalet, 1980, Seite 295)
November 2014
Inmitten der Schaluppen im Bassin verankert, zwischen zwei kleinen englischen Fahrzeugen, einer neapolitanischen Feluke und einer biskayischen Galeere, schaukelte das große Schiff wie ein Schmetterling auf dem grünen Teppich. Es war eine mit kleinen bronzenen Kanonen bestückte Miniaturfregatte, deren mit Lilien, Muscheln und Meeresgöttern verzierter Rumpf golden glänzte. Die Taue waren aus rosa oder purpurner Seide, das Schanzkleid und die Behänge aus Damast und Brokat, mit goldenen und silbernen Fransen besetzt. An den Segeln und den blau und goldfarben bemalten Masten wehten die Wimpel, die Fahnen und Stander in einer heiteren, bunten Symphonie, und überall blinkten in Gold und Silber das Wappen und die Initialen des Königs.
Von diesem Kleinod, diesem glitzernden Spielzeug aus machte Ludwig XIV. heute seinem Hof die Honneurs. Den Fuß auf die Treppe aus vergoldetem Holze setzend, wandte er sich den Damen zu. Wer würde erwählt werden, um an seiner Seite den Wasserweg zu den Wiesen des Trianon einzuweihen? In pfauenblauen Atlas gekleidet, hatte sich der König dem strahlenden Sommertag angepaßt. Er lächelte und streckte die Hand nach Angélique aus. Vor den Augen des ganzen Hofs stieg sie anmutig die Stufen hinauf und ließ sich unter dem brokatenen Zeltdach des Achterdecks nieder. Der König setzte sich neben sie.
(Golon, Anne. Angélique und der König. München: Blanvalet, 1967, Seite 761)
Oktober 2014
Da kommen viel zu viele Menschen, die wir nicht kennen. Freunde von Monsieur de Peyrac, die, anders als wir, die wir in Toulouse leben, nicht häufig Gelegenheit haben, sich seiner Gegenwart zu erfreuen. Lieber überlassen wir denen, die tief in ihrer Provinz und fern von Vergnügungen leben, unseren Platz; denn für viele ist dies so etwas wie eine Reise nach Kythera. Je weniger sie erkannt werden, umso glücklicher sind sie.
Zum großen Eröffnungsfest am ersten Abend erscheinen diejenigen, die dies wünschen, maskiert. Und die Gäste werden einander nicht vorgestellt. Nur wer möchte, nennt seinen Namen.
(Golon, Anne. Angélique - Hochzeit wider Willen. München: Blanvalet, 2008, Seite 235)
September 2014
»Die Infantin soll noch Hüftpolster tragen und so große eiserne Reifen, daß sie sich seitwärts drehen muß, wenn sie durch eine Tür geht.« »Ihr Schnürleib zwängte sie dermaßen ein, daß sie gar keinen Busen zu haben scheint, während sie in Wirklichkeit einen sehr schönen haben soll«, steuerte Madame de Motteville bei und bauschte ein paar Spitzen auf, die ihre magere Brust einrahmten.
Joffrey wandte ihr seinen boshaftesten Blick zu. »Die Madrider Schneider müssen wirklich wenig geschickt sein«, sagte er, »wenn sie das Schöne der-maßen verunstalten, während die Pariser sich doch so glänzend darauf verstehen, das vorzutäuschen, was nicht mehr da ist.«
(Golon, Anne. Angélique. München: Blanvalet, 1956, Seite 224)
Juli - August 2014
Sie war im siebten Monat einer Schwangerschaft, der fünften in sechs Jahren. Sie war erst dreiundzwanzig, hatte einen strahlenden Liebesroman hinter sich und ein tränenreiches Leben vor sich. Noch im Frühjahr hatte Mademoiselle de La Vallière als Amazone einen letzten blendenden Auftritt gehabt. Heute war sie kaum mehr zu erken-nen, so gründlich hatte sie sich verändert.
»Dahin also kann die Liebe zu einem Mann eine Frau bringen«, sagte sich Angélique, und ihr Zorn erwachte von neuem.
(Golon, Anne. Angélique und der König. München: Blanvalet, 1967, Seite 278)